Side Effects

The Essence of Photography

von Marc Peschke
(for english scroll down)

 

Gibt es Magie in der Fotografie? Ist Fotografie selbst Magie? Solche Fragen stellen wir uns beim Betrachten der neuen Serie „Side Effects – The Essence of Photography“ von Joachim Schmeisser. Die Werkreihe ist eine jener wenigen wirklich überraschenden, verzaubernden und neuartigen Beispiele aktueller Fotografie, auch weil sie grundlegende Prinzipien des Mediums selbst zum Thema macht.

Joachim Schmeisser ist vor allem für seine ikonischen Tierbilder bekannt geworden – etwa seine Fotografien von Elefanten. Der grandiosen Schönheit bedrohter Tiere stellt er mit seiner Serie „Side Effects“ nun eine ganz andere Schönheit gegenüber, nämlich jene des unbearbeiteten, analogen Filmmaterials.

Sein Grundmaterial sind zwischen 1975 und 2006 entstandene belichtete Anfänge von Filmen, die der Künstler seit Jahren sammelt. Jeder Film, sagt er, hat in seiner Emulsion eine ganz eigene Struktur. Filme wie Ektachrome 64, Ektachrome 100, Kodachrome, Fuji Velvia, Fuji Provia, Polaroid Polachrome oder Polaroid Polapan unterscheiden sich auch in ihren vielen verschiedenen Varianten deutlich.

Am Anfang des künstlerischen Prozesses steht das Scannen der einzelnen Film-Clips in extremer Vergrößerung. In einem aufwendigen digitalen Prozess, der den Ursprung der einzelnen Clips jedoch nicht verändert, entwickelt der Künstler ein hybrides analog-digitales Kunstwerk, das uns zu der Essenz des Fotografischen zurückführt. Denn „Side Effects“ ist eine Hommage an die fotografische Emulsion, an die lichtempfindliche Lösung, mit welcher der Film beschichtet ist. Dieser Anfang des fotografischen Prozesses trägt etwas in sich, das immer wieder mit dem Begriff des „Magischen“ in Verbindung gebracht worden ist.

Susan Sontag, William Henry Fox Talbot, vor allem aber Walter Benjamin haben den, wie es Benjamin formuliert, „magischen Wert“ der Fotografie in ihren Schriften hervorgehoben. Jeder, der einmal in der Dunkelkammer gearbeitet hat, kennt dies: das Staunen über den analogen fotografischen Prozess. Schon früh entdeckte der Künstler, was er heute eine „magische Spur“ nennt. Diese kann entstehen, wenn ein Film durch mehrmaliges Auslösen zur Aufnahmeposition vorgespult wird, wie er sagt. „Es sind unbeachtete zufällige Belichtungen die, manchmal, genau den Übergang zur lichtempfindlichen Filmemulsion erwischen. Meist über- oder unterbelichtet zeigen sie pastellfarbige oder blutrote Farbflächen, die aus der noch schwarzen unbeschichteten Filmfläche herauswachsen und bei bestimmten Filmen und Entwicklungen zu bizarren expressionistischen Formen führen, die teilweise an kosmische oder mikrokosmische Strukturen erinnern.“

Diese ungewollten, unbeabsichtigten Nebeneffekte, diese „Side Effects“ sind es, die üblicherweise abgeschnitten und entsorgt werden. Aus ihnen formt Schmeisser seit 2022 Kunstwerke, die – obzwar sie einen digitalen Prozess durchlaufen haben – auch an die Frühzeit der Fotografie erinnern, in der das Medium als „magisches Handwerk“ bezeichnet worden ist.

Walter Benjamin hat in seinem 1931 veröffentlichten Aufsatz „Kleine Geschichte der Photographie“ auf den „magischen Wert“ der Fotografie hingewiesen. Damit meinte er auch in besonderer Weise die Absichtslosigkeit, wenn er schreibt: „Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt.“ Und so ist es auch bei den „Side Effects“, aus deren Absichtslosigkeit unter der Ägide des Künstlers Bilder entstehen, die wirklich überwältigende Wirkung haben.

Aus der Vergangenheit zum Teil schon historischer Filme, die heute nicht mehr hergestellt werden, treten nun diese Bilder ins Jetzt: sehr unterschiedliche, abstrakte Bilder, die auch an die Geschichte der Malerei erinnern. Die Farbflächenmalerei US-amerikanischer Künstler wie etwa Mark Rothko hat in den 1950er Jahren dem Wesen nach Verwandtes hervorgebracht.

Nehmen wir Rothko als Beispiel: Die Bildwirkung seiner in der Oberflächenstruktur oft stark überarbeiteten Werke spiegeln die Bandbreite menschlicher Gefühlslagen. Und so ist es auch bei den „Side Effects“: Mal leuchtend, dann düster, mal harmonisch, dann voller Spannungen, mal impulsiv, dann in sich gekehrt und meditativ, mal warm, dann kühl, sind sie ein Spiegel dieser Stimmungen. Ein Spiegel, der nicht ohne sein Gegenüber auskommt. Rothko hat es selbst einmal so beschrieben: „Ein Bild lebt durch die Gesellschaft eines sensiblen Betrachters, in dessen Bewusstsein es sich entfaltet und wächst. Es stirbt, wenn diese Gemeinschaft fehlt.“

Ein anderer Vertreter der US-amerikanischen Farbfeldmalerei sei noch genannt: Barnett Newman. Newman ist in den 1950er Jahren für seine von farbigen Bändern geteilten Gemälde bekannt geworden, für seine monochromen Flächen und vertikalen Streifen, die er „zips“ nannte. Zwischen 1966 und 1970 hat Newman den Gemäldezyklus „Who`s afraid of Red, Yellow and Blue?“ geschaffen: eine Ikone der Malerei des 20. Jahrhunderts.

Newman hat immer wieder den Begriff des „Sublimen“ für seine Kunst verwendet, hat sie auch als „metaphysische Erfahrung des Erhabenen“ beschrieben. In seinem 1948 erschienenen Aufsatz „The Sublime Is Now“ führt er aus, dass die Farbe der wichtigste Ausdrucksträger seiner Werke sei. Die malerischen Abstraktionen Newmans sind – das verbindet sie mit den „Side Effects“ – stark geistig aufgeladen. Newman verstand Abstraktion als Träger von Ideen, von Mythen und Emotionen.

Und so fordert die Serie der „Side Effects“ tatsächlich auch sensible Betrachter und Betrachterinnen. Die Bilder sind Zeugnisse eines vollkommen ungesehenen, überaus erstaunlichen abstrakten fotografischen Expressionismus. Hier wird die lange Geschichte abstrakter Kunst noch einmal weitergeschrieben, mit einer in der aktuellen Fotokunst solitären Serie, die ihre Kraft aus einer verführerischen Mischung von Schönheit und Magie zieht. Der Künstler geht mit dieser Serie zurück zur Essenz der Fotografie als Abstraktion der Wirklichkeit.

In dieser Essenz steckt etwas Unbeschreibliches. Etwas, das dem rationalen Denken nicht vollkommen zugänglich ist. Gleichzeitig sind diese Bilder auch Belege einer „konkreten“ Fotografie im Sinne des Fotografen und Fototheoretikers Gottfried Jäger, denn sie sind nicht „Abstraktionen von Etwas, sondern sie konkretisieren Etwas, etwas Neues.“

Die farbintensiven, phantastischen Bilder der Serie, in denen man so viel und immer Neues entdecken kann – sie sind anders als das, was wir sonst sehen. Sie kommen aus einer ganz eigenen Welt, aus dem Inneren der Kamera und erinnern auch daran, dass eine Fotografie nicht zwingend etwas abbilden muss. Um noch einmal Jäger zu zitieren: Diese Spuren des Lichts zeigen etwas auf, was vorher verborgen war: „Erst durch den Verzicht auf abbildende und darstellende Elemente kommt das Foto zu sich selbst und kann auf seinen ureigenen Grund vorstoßen, auf eine Syntax, die sonst verborgen bliebe.“

Diese Fotografien, so sehr hier auch die Hand des Künstlers eingegriffen hat, um sie entstehen zu lassen, erzählen von einer grenzenlosen Freiheit, die in der dunklen Kammer des Fotoapparates zu herrschen scheint. Sie erkunden die Grundprinzipien des fotografischen Verfahrens, deuten aber in großer Schönheit an, wie das Physische ins Geistige überwechselt. Gibt es Magie in der Fotografie? Auch über diese Frage können wir beim Betrachten nachdenken.

Und schließlich auch noch darüber, welche Verbindung diese Bilder zu uns Betrachtern knüpfen. Man könnte sie als Spiegel menschlicher Gefühlslagen verstehen. Sie scheinen den menschlichen Erfahrungen, scheinen der Angst, der Freude, dem Leben und dem Tod auf seltsame Weise sehr nah zu sein.

Marc Peschke
Kunsthistoriker und Kurator

 

 

Side Effects

The Essence of Photography

by Marc Peschke

 

Is there magic in photography? Is photography itself magic? We wonder about such questions while considering the new series of “Side Effects – The Essence of Photography” by Joachim Schmeisser. The series of works is one of those few genuinely surprising, captivating and innovative examples of contemporary photography, also because it presents its theme as the fundamental principles of the medium itself.

Joachim Schmeisser established a reputation for his iconic pictures of animals – in particular, his portraits of elephants. His current series, “Side Effects”, juxtaposes the majestic beauty of endangered animals with a highly contrasted aesthetic, namely, the beauty of unprocessed analogue film material.

His basic material comprises exposed first clips of films, produced between 1975 and 2006, which the artist collected over many years. Every film emulsion has its own unique structure, he says. Films like Ektachrome 64, Ektachrome 100, Kodachrome, Fuji Velvia, Fuji Provia, Polaroid Polachrome or Polaroid Polapan are also clearly differentiated in their many distinctive variants.

The artistic process begins with scanning the individual film clips that have been significantly enlarged in size. By means of a complicated digital process, which does not alter the original quality of the individual clips, the artist develops a hybrid analogue–digital artwork, which takes us back to the essence of the photographic image. In other words, “Side Effects” pays homage to photographic emulsion, to the light-sensitive solution that the film is coated with. This beginning of the photographic process involves something that has been associated with the term “magical” many times in the past.

Susan Sontag, William Henry Fox Talbot and particularly Walter Benjamin emphasized in their work what Benjamin called the “magical value” of photography. Those who have experienced the darkroom are familiar with the astonishment about the analogue photographic process. Early on in his career, Joachim Schmeisser discovered what, nowadays, he calls a “magical trace”. This can appear when the shutter takes several exposures to forward a film to the shooting position, as he explains. “It is about unnoticed, accidental exposures that, occasionally, capture the perfect transition to light-sensitive film emulsion. Mostly over- or underexposed, they show pastel hues or crimson colour patches, which grow out of the uncoated, still black film surface, and leading in certain films and developments to bizarre expressionist forms that, in some cases, are reminiscent of cosmic or microcosmic structures.”

These accidental, unintentional “Side Effects” are what usually gets cut and discarded. Schmeisser has been using this material since 2022 to create artworks, which – although subjected to a digital process – are also a throwback to the early era of photography when the medium was described as “magical handiwork”.

Walter Benjamin referred in his essay “A Short History of Photography” (1931) to the “magical value” of photography. That is, he meant rather a unique accident when he stated: “It is a different nature which speaks to the camera than speaks to the eye: so different that in place of a space consciously woven together by a man on the spot there enters a space held together unconsciously.” The same can also be said of the “Side Effects”, whose accidental character leads, at the artist’s hand, to the creation of pictures whose effect is quite overwhelming.

These pictures come to the fore at the present time from the legacy of films, many of which are vintage and now no longer produced. They are very diverse, abstract visual images, which are also reminiscent of the art-historical relevance of painting. For example, the colour field painting of American artists such as Mark Rothko produced much the same style in the 1950s.

Keeping in mind the example of Rothko: the visual effect of the often heavily reworked surface structure of his paintings reflects the spectrum of human emotional states. This also resonates with the “Side Effects”: sometimes luminous, then gloomy; sometimes harmonious, then full of tensions; sometimes impulsive, then introspective and meditative; sometimes warm, then cold; they are a mirror of these feelings. A mirror that doesn’t manage without its counterpart. As Rothko himself once stated: “A picture lives by companionship, expanding and quickening in the eyes of the sensitive observer. It dies by the same token.”

Barnett Newman is another representative example of American colour field painting. Newman became famous in the 1950s for his paintings with their distinctive colourful bands, for his monochrome fields of colour and vertical bands, which he called “zips”. Newman painted “Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue?” between 1966 and 1970, a cycle of paintings that has become iconic of 20th-century art.

Newman repeatedly used the term “sublime” to describe his artwork and defined it as a “metaphysical experience of the sublime”. In his essay “The Sublime Is Now” (1948), he explains how colour is the most important medium of expression in his works. Newman’s painterly abstractions are charged with deep intellectual meaning – that connects them with the “Side Effects”. Newman treated abstraction as a vehicle to reflect ideas, myths and emotions.

In fact, the “Side Effects” series also requires sensitive observers. The pictures are testimony to a completely unseen, entirely astonishing abstract photographic expressionism. The long tradition of abstract art is prolonged here by writing another chapter, with a series that stands alone in contemporary photographic art and derives its eloquence from a seductive mixture of beauty and magic. The artist goes back with this series to the essence of photography as abstraction of reality.

There is something ineffable in this. It is something that is not completely accessible to rational thought. At the same time, these pictures are also proof of “Concrete Photography” in the sense of photographer and photo-theorist, Gottfried Jäger, because they are not “abstractions of something, but concretize something, something new.”

We can discover so much and always something new in the vivid, wonderful pictures of the series – they are different from what we usually see otherwise. They come from a completely original world, from the inner world of the camera and they also remind us that a photograph need not necessarily depict something. To put this again in Jäger’s terms: these light traces point out something that was previously hidden: “The photograph only comes into its own by foregoing reproduced and depicted elements, and it can advance to its innate foundation, to a syntax, which otherwise would remain obscured.”

As much as the artist’s hand was also at work here in creating these photographs, they tell of limitless freedom that seems to prevail in the camera’s darkroom. They explore the basic principles of the photographic process, and yet in great beauty they indicate how the physical is transferred to the spiritual dimension. Is there magic in photography? We can also contemplate this question while we make our observations.

Finally, we can reflect, too, on what connection ties these pictures to us as observers. We could interpret them as a mirror of our emotional states. They seem in a strange way to be very close to human experiences, close to our fear, joy, life and death.

Marc Peschke
Art historian and curator

 

REQUEST A LIST OF ALL AVAILABLE WORKS

 

 

Cookie Notice

We use cookies to ensure that we give you the best experience on our website. By using the website you agree to our use of cookies.